Kino im Kopf: New York
Wie es um deine visuelle Vorstellungskraft bestellt ist, lässt sich laut HFF-Professor Andreas Gruber ganz einfach im Selbstversuch herausfinden: Bitte eine vertraute Person, dir eine Geschichte zu erzählen, die du noch nicht kennst. Dann beobachte dich selbst: Wie präzise ist das Bild, das vor deinem inneren Auge entsteht? Haben die Kleidungsstücke der Personen Farben? Siehst du deren Gesichter? Stimmt die Mimik? Ja? Bingo! Du bist ein visuell denkender Mensch und bringst damit die wichtigste Voraussetzung für den Regieberuf mit!
Bei mir ist gutes Kopfkino beim Lesen selten, und das, obwohl ich durchaus mit einer regen Vorstellungskraft ausgestattet bin. Dafür muss der Autor sich ganz schön ins Zeug legen und vor allem bei den Metaphern höchste Präzision walten lassen. So wie Colum McCann, der in Die große Welt nicht mehr als eine halbe Seite braucht, um eine Welt in meinem Kopf zu erzeugen: flirrend genau, voller Gegenwärtigkeit, wie die Stadt New York, in der der Roman hauptsächlich spielt:
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Interview mit dem Autor:
Ich mag solche kleinen Tests und bin - als ich davon in einem Interview mit Gruber in der Januar-Ausgabe des Münchner Feuilletons gelesen habe - direkt daran hängengeblieben. Denn das klingt im ersten Moment so wunderbar plausibel: Es gibt visuell denkende und nicht visuell denkende Menschen. Entweder man gehört zu den einen oder zu den anderen. Punkt.
Aber Moment mal: Auf das Lesen von Romanen übertragen hieße das ja, bei den einen spielt sich während der Lektüre automatisch ein Kopfkino ab, bei den anderen nicht. Je nach Veranlagung. Doch ist es nicht entscheidend, wer eine Geschichte erzählt und vor allem wie derjenige sie erzählt?
"Von draußen die Geräusche der Park Avenue. Leise. Geordnet. Beherrscht. Dennoch flattern ihre Nerven. Bald werden die Frauen kommen. Beim Gedanken daran spürt sie einen kleinen Knoten ganz unten an der Wirbelsäule. Sie legt die Hände an die Ellbogen, drückt die Arme an die Brust. Der Wind kräuselt die leichten Vorhänge. Aus Alencon. Handgearbeitete Schiffchenspitzen mit einem Besatz aus Seide. Sie hat sich nie viel aus französischen Spitzen gemacht. Ein normaler Stoff, ein leichter Voile, wäre ihr lieber gewesen. Die Spitzen waren Solomons Idee, vor langer Zeit. Der Stoff, aus dem man Ehen macht. Der gut zusammenhält. Er hat ihr heute Morgen das Frühstück gebracht, auf dem Tablett mit den drei Griffen. Ein leicht glasiertes Croissant. Kamillentee. Einen schmalen Zitronenschnitz auf einem kleinen Teller. Er hat sich sogar in seinem Anzug aufs Bett gelegt und ihr über das Haar gestrichen." (S.119)
Das Wesentliche über die Situation dieser Figur ist damit eigentlich schon gesagt, es wird nun ein Kapitel lang entfaltet und variiert. Dann kommt das nächste Kapitel. Cut. Neues Setting, neue Figuren: Ein irischer Priester und sein Bruder. McCann schreibt: "Man kann von irgendwoher in diese Stadt kommen und im Nu ein Gefühl von Vertrautheit haben" (S.509). Das gilt auch für diesen Roman: Man kann von irgendwoher in diese Geschichte eintauchen und im Nu das Gefühl von Vertrautheit haben. Cut. Zwei Prostituierte aus der Bronx, Mutter und Tochter. Cut. Zwei Künstler mit jeder Menge Kokain im Blut. Cut. Bis gut über die Hälfte des Buches lässt sich kein Zusammenhang zwischen den einzelnen Szenen erkennen, nur diesen: Während all diese Figuren ihr Leben leben, balanciert ein Mann über ein Stahlseil, das er zuvor zwischen den Twin Towers gespannt hat. Erst nach und nach wird der Blick aufs große Ganze freigelegt: So muss sich das Leben im New York der 70-er Jahre angefühlt haben, während am anderen Ende der Welt der Vietnam-Krieg tobte.
"Seltsame Dinge ereigneten sich hier, weil es an der notwendigen Achtung für die Vergangenheit fehlte. Die Stadt lebte in einer immerwährenden Gegenwart. Sie brauchte nicht an sich selbst zu glauben wie London oder Athen, sie war nicht einmal ein Symbol der neuen Welt wie Sydney oder Los Angeles. Nein, dieser Stadt war es vollkommen gleichgültig, wo sie stand. Er hatte ein T-Shirt mit dem Aufdruck New York Fuckin' City gesehen. Als wäre es die einzige Stadt, die je existiert hatte und je existieren würde." (S. 383)
Ich war noch nie in New York und das wird sich in nächster Zeit wohl auch nicht ändern. Solange bleibt die Stadt Sehnsuchtsort, Kino im Kopf. Aber das - nicht zuletzt durch die Lektüre von Die große Welt - in den buntesten Farben.
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Interview mit dem Autor:
Infos zum Buch:
Colum McCann
Die große Welt
Reinbek bei Hamburg, Rowohlt
537 Seiten
9,99 Euro
Nach diesem Test wäre ich auch kein visueller Mensch... Wenn ich Bücher lese, sehe ich gedanklich oft nur unscharfe Umrisse - es kommt aber tatsächlich auf die Erzählart an.
AntwortenLöschenNew York, da möchte ich unheimlich gerne mal hin, irgendwann... Vielleicht sollte ich das Buch auch einmal lesen!
Ganz liebi grüäss, anja