Michela Murgia: Accabadora

Accabadora von Michela Murgia habe ich vor zwei Jahren schon einmal gelesen, kurz nachdem ich einige Wochen auf Sardinien verbracht habe. Der Roman hat die Bilder, die ich damals im Kopf hatte, mit eigentümlichen Geschichten und Stimmungen aufgeladen. Karg und ausgetrocknet kam mir die Landschaft vor, zeitentrückt irgendwie, die Bergdörfer. In den dunklen Gassen schienen die Geschichten der Jahrhunderte widerzuhallen, unzugänglich für uns Reisende, die wir doch nichts von all den Bräuchen, den unausgesprochenen Übereinkünften und Regeln der Dorfgemeinschaft wussten.




Erzählt wird die Geschichte Marias, die in den 1950er Jahren von der alten Schneiderin Bonaria Urrai als fillus de anima - Kind des Herzens - adoptiert wird. In Sardinien ist das - so erklärt ein Glossar im Anhang - eine gängige Form der Adoption, die mit dem Einverständnis der beteiligten Familien und ganz ohne behördliche Formalitäten geschieht. Eine kinderreiche Familie gibt eines ihrer Kinder an ein Paar, das keine Kinder hat. Das Kind des Herzens bleibt in engem Kontakt mit seiner Ursprungsfamilie, es hat fortan einfach zwei Mütter. 

Für Maria ist diese zweite Geburt ein großes Glück. Sie ist die letzte, ungewollte Tochter einer bitterarmen Bauernfamilie aus Soreni, in der die Einzelne nicht viel zählt. Bonaria dagegen zieht sie mit Achtung und Sorgfalt auf. Und dennoch trägt Maria das unsichtbare Zeichen des Makels auf ihrer Stirn. Sie ist wissbegierig und klug, anders als ihre Schwestern, das macht selbst die Mutter misstrauisch. Voller Fein- und Mitgefühl erzählt Michela Murgia, wie Maria ihren Weg dennoch aufrecht und stark geht, auch noch, als sie zu verstehen beginnt, was ihr ihre Adoptivmutter (und scheinbar alle anderen) jahrelang verheimlicht haben. 




Accabadora ist ein leises Buch, das ohne große Worte und Erklärungen auskommt. Vieles bleibt ungesagt, oszilliert aber zwischen den Zeilen wie die Mittagssonne auf den von Rissen überzogenen Feldern Sorenis. Es lässt dem Leser viel Raum, um eigene Schlüsse zu ziehen, um innere Bilderwelten und Stimmungen entstehen und nachwirken zu lassen. Das tut gut. Denn wenn sich das Gelesene erst einmal mit dem Erinnerten vermischt hat, wirkt es umso stärker.


Copyright: dtv
Infos zum Buch:
Michela Murgia
Accabadora
München, dtv
170 Seiten
9,20 Euro



Kommentare

  1. Das Buch macht mich richtig neugierig - ich mag es, wenn Stimmungen gezeichnet werden in Texten... alles Liebe und danke für den Tipp!! maria

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  2. Geht mir so wie Maria! Vielleicht mein nächstes Buch?
    Ganz liebi grüäss, anja

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