Vermessung des kleinen Glücks

Ich mag es, durch Buchhandlungen zu schlendern und zu schauen. Einfach so, und meistens mit dem Vorsatz, erst mal nichts zu kaufen. Doch Cover und Klappentext des Romans Alle meine Wünsche haben mich neulich derart angesprochen, dass ich einfach zugreifen musste. Ich schätze, es waren Reizwörter wie "Nähen" und "Stricken", die bei mir als vermeintlicher Vertreterin der Generation Y (oder auch der Generation Biedermeier wie neulich hier gehört) sämtliche Sicherungen durchbrennen ließen :-)

Copyright: Hoffmann und Campe
Jocelyne, die Protagonistin des Romans, lebt nicht gerade in einer Idylle. Im nordfranzösischen Provinznest Arras betreibt sie einen Kurzwarenladen, der noch nie besonders gut gelaufen ist. Denn 4 Shopping-Center und 11 Supermärkte machen ihr Konkurrenz und die Frauen von Arras ziehen die Leichtigkeit des Prêt-à-porter der Kreativität des Selbstgenähten vor. Auch ihr ungehobelter Mann ist alles andere als ein Märchenprinz, doch sie hält an ihm fest. Irgendwie liebt sie ihn sogar. Die beiden haben zwei erwachsene, ihnen entglittene Kinder. Ein drittes ist am ersten Tag seines Lebens gestorben. Es ist, wie es ist und Jocelyne eine glückliche Frau. 

Denn sie hat eine sehr nützliche Eigenschaft: Sie nimmt ihr kleines Leben so an, wie es ist, und macht das Beste daraus. Stellvertretend steht dafür im Roman das Handarbeiten - all die Garne, Bänder und Pailletten, die trotz ihrer Einfachheit die Möglichkeit in sich tragen, zwischen zwei geschickten Händen zu etwas Großartigem zu werden. Das ist jede Menge Stoff zum Träumen, und den teilt die Französin auf ihrem Internet-Blog mit immer mehr Frauen, die sich und ihre Lebensfreude in Jocelynes Worten wi(e)derzufinden scheinen. 

Es ist nicht die Erfüllung ihrer Träume, die diese Frauen zufrieden macht, sondern das Träumen selbst. So zumindest legt es der Roman nahe. Denn als in Jocelynes Leben real wird, was sich viele Menschen sehnsüchtig wünschen, bekommt sie es mit der Angst zu tun. Die größte Verheißung wird für jemanden, der das Glück im Kleinen gefunden hat, zur elementaren Bedrohung. Die Wirklichkeit überrollt Jocelyne und sie wird eine andere. Ende aus. Roman vorbei. 

Ich habe dieses "große kleine Buch" (Elke Heidenreich) gern gelesen. Aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass Grégoire Delacourt, dieser smarte Autor mit der guten Schreibe, sich gefragt hat: "Was ist es, was die Frauen heute wieder zum Stricken, Nähen und Sticken bringt?", "Wer steht hinter den vielen Kreativblogs, die zum Teil mehr Traffic generieren als die Websites etablierter Medien?" Und dann hat er beschlossen, darüber einen kleinen, gut konstruierten Bestseller zu schreiben. Das ist ihm gelungen. Aber zum Kern der Sache ist er nicht vorgedrungen.

Infos zum Buch: 
Grégoire Delacourt
Alle meine Wünsche 
Hamburg, Hoffmann und Campe
127 Seiten 
15,99 Euro

Kommentare

  1. Danke für deine Einschätzung. Das bestätigt meinen Eindruck. Nach allem, was ich über dieses Buch gehört habe, hatte ich immer das Gefühl, dass das Cover und das Trendthema dafür gesorgt haben, dass es ein Bestseller geworden ist ... und außerdem mag ich keine so kurzen Romane. Entweder schreibt man eine Kurzgeschichte oder dann gleich einen richtigen Roman, finde ich! :)

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